Nacht der Reue

Er hatte es getan. Die tiefen, unergründlich tiefen schwarzen Augen starrten ihn ausdruckslos an. Er konnte ihren Blick nicht ertragen.
Er saß da, ausdruckslos, miserabel.
Die Haare, die kurzen Haare weiß. Glänzend weiß in der Nacht. Leuchtend im Mond. Gespenstisch weiß. Tot. Seele. Gespenst. Zombie. Untoter. Tot. Lebendiger Toter.
Es war ganz einfach. Der Weiße gehörte ihm. Gehörte dem Schlachter. Gehörte dem Metzger, weißes Fell, blutverklebt, Blut, Tod. Geld. Vergiß das Geld nicht. Du brauchst es! Vergiß den Tod nicht.
Er schaute den Weißen an. Die schwarzen Augen waren tiefe Löcher in der weißen Nacht. Du altes ekelhaftes Vieh. Jetzt bist Du alt und lächerlich. Niemand will Dich mehr. Kaputt bist Du. Berühmt warst Du. Aber sterben sollst Du. Jung genug bist Du. Die Versicherung wird zahlen. Wir werden reich, Du wirst sterben, ich werde an Dich denken, wenn ich meinen Anteil von der Million kriege.
Die schwarzen Augen brannten sich in sein Gehirn ein, sie starrten durch ihn hindurch, sie packten seine Seele, verbrannten sein Herz.
Er merkte es nicht. Er merkte es nicht.
Der Laster hielt an. Wir sind da, Weißer. Spurlos verschwinden sollst Du, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Geld zu mir.
Die Rampe wurde geöffnet. Er nahm den großen Weißen am Zügel. Er sah die schwarzen Hufe nicht. Nicht in der schwarzen Nacht. Die schwarzen mörderischen Hufe. Er sah die ausdruckslosen Augen nicht, die sich in sein Herz einbrannten, als der Weiße neben ihm herausschoß und ihm das Bein brach. Pferde mit gebrochenen Beinen werden erschossen. Aber verdammt, ich bin kein Pferd. Verdammt, mein Bein.
Der Weiße stand draußen, hochbeinig, schwarze Augen, in denen der Mond und der Tod flackerten. Und die Endgültigkeit. Der Tod stand fest. Die Endgültigkeit. Die mörderische Entschlossenheit.
Joey rannte zu ihm, sah das verdrehte gebrochene Bein und wurde bleich. Er starrte unwillkürlich den großen Weißen an, der im fahlen Mondlicht und mit den tiefen schwarzen Augen wie der Tod selbst aussah. Erfolgreich warst Du. Sterben sollst Du. Stirb!
"Bringt ihn endlich um!" schrie er, der Schmerz und die Panik verzerrten sein Gesicht. "Bringt ihn um, schlachtet das Vieh endlich!"
Aber niemand rührte den Weißen an, der stolz und endgültig im Mondlicht stand, flackernde Augen, gemeißelt in Marmor, Standbild, Statue, leblos, mörderisch, gefühllos. Kalter Stein.
Der Schlachter war der erste. Er packte seine Rinderpeitsche fester auf den Weißen zu. Langsam, vorsichtig, hinterhältig.
Die beiden anderen verfolgten gespannt jede seiner Bewegungen.
Er packte den Weißen am Zügel, der immer noch unbeweglich dastand. "Komm mit, Du Vieh!" Der Weiße stand unbeweglich da. Der Schlachter riß brutal am Zügel. "Komm!" brüllte er. Der Weiße machte einen Schritt rückwärts. Die schwere Rinderpeitsche sauste durch die Luft und klatschte auf den weißen Pferderücken. Der Schimmel wollte in Panik wegspringen, er bäumte sich auf, riß am Zügel, aber die starke Hand des Schlachters hielt ihn fest, die Peitsche klatschte gegen den mageren Körper. Immer und immer wieder.
Die beiden sahen es mit Genugtuung.
Und plötzlich zeigte das riesige Pferd seine Überlegenheit. Der Weiße tänzelte noch ein bißchen, er brach ganz nach außen aus, sein Kopf wurde vom Zügel herumgerissen, dann galoppierte er in eine atemberaubend enge blitzschnelle Wende, die ihn fast mit dem Boden vereinte, und dann rannte er geradeaus seinen Weg, die Hufe zertrampelten den Boden, gewannen an Grund, stampften alles nieder, rannten in die Peitsche, sprangen gegen den Peiniger mit eiskalter Perfektion.
Der schwere Körper des Pferdes riß ihn zu Boden, die Hufe flogen über ihn hinweg, ließen ihn blutend und hilflos am Boden liegen.
Da stand es wieder. Das weiße Pferd mit den leeren schwarzen Augen, in denen das Mondlicht flackerte, stolz, ungebrochen.
Die beiden anderen saßen auf der Rampe des Lasters, sahen den eiskalten weißen Pferdekörper, sahen den blutenden Metzger am Boden, sahen die tiefen schwarzen Augen. Und es lief ihnen kalt den Rücken hinunter. Eiskalt. Der Horror tanzte in ihrem Genick, der Wahnsinn zeichnete ihr Gesicht, ließ das verdrehte Bein vergessen. Ließ die Vernunft auf die Streckbank spannen und ließ sie vergessen, riß sie auseinander, ließ die Sehnen reißen, brach die splitternden Knochen, ließ von der Vernunft einen blutigen Haufen im Gehirn zurück. Durchstach das letzte mutige Herz mit unbarmherzigen Dolchen von panischer Angst. Mit Widerhaken, unmöglich wieder rauszuziehen, ohne sich noch mehr dabei zu verletzen. Die schwarzen Augen des weißen Pferdes glühten in schwarzem Licht und vereinten sich mit der tiefen Nacht. Eine endlose schwarze Unendlichkeit zeichnete sich in den dunklen Augen des weißen Schädels ab. "Joey, tu doch was!" schrie er. Aber Joey saß da, bewegungslos, starrte wie ein Idiot nur noch das weiße Pferd an, das wie eine Marmorstatue im Mondlicht stand, dessen Fell im matten Schimmer eines Leichentuches glänzte. "Joey!" schrie er ihm direkt in die Ohren, packte ihn am Kragen, schüttelte ihn. "Wir haben doch ein Gewehr vorn im Laster, Joey!" Aber Joey bewegte sich nicht, er starrte nur mit blöden Augen den Schimmel an.
Dann sprang er auf, ungeachtet des gebrochenen Beines, stolperte die Rampe hinunter, lag hilflos am Boden, das Gesicht im Staub. Er hatte unerträgliche Schmerzen im Bein. Der Schmerz pulsierte in ihm, ließ ihn in unendlicher Verzweiflung und Qual aufschreien. Er fühlte sich gebrochen und zerissen, er spürte die Knochensplitter in seinem Fleisch, er fühlte den stechenden mörderischen Schmerz, der seine Nerven zittern ließ. In seinen Augen sah er nur noch dieses weiße Fell des Pferdes, matt glänzend, fahl schimmernd, mörderisch weiß.
Das Bild hatte sich in sein Gehirn eingebrannt. Der große Weiße stand im Mondlicht, die leeren schwarzen Augen schienen jeden anzustarren, festzustarren, starr, festgefroren, jeden festzufrieren, festzunageln.
Der große Weiße schien auf etwas zu warten. Und er würde nicht eher von der Stelle weichen, bis er es hatte.
Was er wollte, sagte er nicht.
Was er wollte, wußte niemand.
Er lag hilflos am Boden, Joey sah ihn nicht, Joey sah nur das schrecklich große weiße Pferd. "Joey!" schrie er, "Hilf mir doch, verdammt noch mal, Joey!" Seine letzten Worte gingen in verzweifeltem Schluchzen unter. Der Staub schluckte gierig seine Tränen, verschmierte sein Gesicht. Das weiße Pferd stand reglos im Mondlicht. "Joey, Du Hurensohn, erschieß ihn, hol das Gewehr, Joey!" Er schien sich die Stimmbänder blutig brüllen zu wollen, aber Joey bewegte sich nicht, mit irrem Blick starrte er den Schimmel an. "Joey! Bitte, Joey, tu doch was!" Er lag da, das Gesicht im Staub, ein Häufchen Elend, das gebrochene Bein schrecklich verdreht, das Fleisch, die Sehnen, jede Muskelfaser im gepeinigten Körper vor unendlichem Schmerz verkrampft und in tödlicher Qual zuckend. Alles schien sich um ihn zu drehen, sein Puls hämmerte gegen seine Schläfen, schlug das Blut in sein Hirn und jagte es durch den Körper mit atemberaubender brutaler rasender Geschwindigkeit, die den schwachen Körper mit stechendem Schmerz durchriß und mitriß und durchzog.
Er schrie, von den gesprungenen Lippen tropften Speichel und Rotz, er verschluckte sich, er hustete, er schrie und schrie und röchelte und wurde von Schmerz geschüttelt, wie ein Krampf befiel es ihn, er bekam keine Luft, er würgte und kotzte und schluchzte. Das Schreien wurde zum Ersticken und Würgen und Kotzen und Keuchen. Bis er nur noch nach Luft schnappend und röchelnd dalag.
Joey stand auf. Mechanisch, irr. Er stieg über ihn hinweg, beachtete ihn nicht, den, der zuckend und röchelnd im Staub lag. Er stieg vorn in den Laster und holte das Gewehr.
Er entsicherte es und zielte.
Er zielte auf den, der hilflos im Staub lag.
"Joey, nicht! Nein, Joey!" Flehende Augen starrten in den kalten Lauf des Gewehres. "Joey, ich bin's doch, nein!"
Die Hand, die das Gewehr hielt, zitterte.
"Joey, nein! Das Pferd, erschieß das Pferd!"
Joey ließ das Gewehr sinken.
"Joey, das Pferd." flüsterte er. "Der Weiße. Joey, erschieß ihn!"
Ein Gewehrschuß krachte.
Die schwarzen Augen flackerten verächtlich.
Die zitternde Hand hatte nicht getroffen. Hufe flogen durch die Luft, tödliche Hufe. Die Hufeisen schlugen Funken auf das Steinpflaster. Die schwarzen Augen schwärzten die Nacht, das Schnauben wurde zum Feuerspucken.
Der große Weiße mit den tiefen Augenhöhlen stand vor ihnen. Und sie sahen in den schwarzen Augen nur noch eines: Den Tod.
Joey ließ das Gewehr fallen, sein Verstand wurde von den schwarzen Augen verbrannt. Die tiefen schwarzen Löcher sagten ihnen nur eins: Ihr werdet sterben. Noch heute nacht. Ihr werdet sterben, sterben, sterben! Heute nacht.
Joey schrie nur noch wie ein Wahnsinniger, als der schwarze Blick seine Seele verbrannte. Mit einem markerschütterndem Schrei, der die kalte Nacht durchriß, drehte er sich um, lehnte sich gegen die Wand des Lasters, den Kopf unter den Armen und er röchelte nur noch, Blut tropfte aus seinem Mund. Er zitterte am ganzen Körper, kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, seine Achillessehnen schienen durchgeschnitten zu werden, er brach zusammen, fiel auf seine Knie, aber er konnte sich nicht halten, er fiel auf den Boden, sackte kraftlos zusammen. Seine Augen waren weit aufgerissen. Und sie waren kalt und glasig. Der schwarze Blick hatte ihm die Seele aus dem Leib gerissen.
Herausgerissen.
Joey war tot.
Die schwarzen mörderischen Hufe flogen durch die schwarze mörderische Nacht.
Sie hatten ihm das Bein gebrochen, und sie würden ihm die Arme brechen, sie würden ihm die Rippen brechen, das trockene krachende Geräusch von splitternden Knochen. Sie würden auch ihn brechen.
Schweißgebadet wachte er auf. Er schnappte keuchend nach Luft, als drohte er zu ersticken.
Er zitterte am ganzen Körper.
Er war nur kurz eingeschlafen. Er lehnte sich zurück, versuchte vergeblich, sich zu beruhigen. Er atmete tief durch, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Hand zitterte dabei.
Drei Stunden später.
Seine Hände zitterten immer noch ein bißchen, als er aus dem Laster stieg.
Joey machte die Scheinwerfer aus.
Niemand hatte es bemerkt, daß sie hier waren. Die Nacht war kalt und klar, das fahle Licht des Vollmondes warf gespenstische Schatten auf den Weg.
Sie läuteten dreimal. Wie vereinbart. Der Hausherr machte ihnen auf. Ein eleganter Mann um die 40, ein freundliches Lächeln.
Ein Versicherungsbetrüger.
"Es ist alles bereit. Wir müssen ihn nur noch verladen."
Schweigend gingen die Drei in den Stall. Sie blieben vor einer Box stehen. "Das ist er." sagte der Hausherr trocken.
Und vor ihnen stand ein riesiges weißes Pferd, dessen Augen tiefe schwarze Löcher waren.
Unvermittelt spürte er einen stechenden Schmerz im Bein.
"Ich steige aus!" sagte er mit zitternder Stimme.
Er drehte sich um und wollte gehen.
"Warte auf mich." sagte Joey.


Gisela Nagy, Dezember 1989. Für Andrel.