Das Ohrenspiel Abdallahs

Durch die weite, breite Steppe
Ritt ich eines Sommerabends,
Ritt ich meinen Hengst Abdallah.
Weil wir auf dem Heimweg waren,
Schritt er aus mit raschern Hufen,
Ahnt er doch den nahen Stall.

Nichts zu sehen, nichts zu hören:
Keiner Grille zart Gezirpe,
Keines Vogels Aufgeschrecktheit,
Keines Wildes fern Gebelle.
Nirgends Häuser, nirgends Menschen,
Nirgends Wälder, Hügel, Täler,
Einzig nur der lose Sand.

Immer nickte mit der Stirne,
Daß die schwarze Mähne wellte,
Immerfort mein Hengst Abdallah,
Immerfort und immerweiter.
In Bewegung immerwährend
Waren auch die schlanken Ohren,
Alle beide bald nach vorne
Alle beide bald nach rückwärts.
Nun das rechte spitz nach vorne
Und das linke spitz nach rückwärts,
Nun das linke spitz nach vorne
Und das rechte spitz nach rückwärts,
Unaufhörlich. Was, zum Kuckuck,
Hört denn doch mein Hengst Abdallah?
Keiner stört ja unsre Stille,
Nirgend Szene und Gefahr.

Dacht ich mir: Was meinen Ohren,
Trotz der grenzenlosen Ruhe,
Trotz des Friedens bleibt verloren,
Das erhorcht mein Hengst Abdallah.
Aber was erhorcht mein Hengst?

Hört er wilde Reiter nahen,
Die auf meine Spur gesandt sind?
Hört er ihre Säbel rasseln,
Hört er ihre Sättel knarren,
Viele, viele Meilen fern?

Oder einen müden Wandrer,
Der am Wüstensaum verschmachtet
Und zu Gott die letzten Seufzer
Sterbend in den Himmel schickt?

Oder, wo die Steppe endet,
Sitzen unter Palmenkronen
Zwei Verliebte, sehr verliebte,
Und er hört die heißen Küsse,
Und er hört die heißen Schwüre,
Immer heißern Schwur und Kuß?

Hört er ferne Klageklänge?
Hört er Hochzeitslieder klingen?
Hört er Alles, was auf Erden
Jubelt, betet, flucht und schluchzt?
Hört er gar die Sterne summen,
Gottes Engel jubilieren,
Hört die ganze Weltmusik?


Detlev von Liliencron (3.6.1844 - 22.7.1909)